Ein Betontulpenmeer in New York

Anstelle des baufällig gewordenen Pier 54 wurde in New York am Hudson River eine 2,4 ha große künstliche Insel geschaffen. Die Konstruktion besteht aus 132 tulpenartigen Betonfertigteiltöpfen, die auf 267 Spannbetonpfählen ruhen. Der vollständige Beitrag (nur Deutsch) ist im BetonBauteile Jahrbuch 2022 zu lesen, erhältlich in der Profil-Buchhandlung des Bauverlages.

Im April 1912 legte am Pier 54 in New York die RMS Carpathia mit den Überlebenden der Titanic an. Diese sollte eigentlich am nur wenige Hundert Meter entfernten Pier 59 ankommen, doch dem stand bekanntlich ein Eisberg im Weg. Tatsächlich waren die zahllosen Großschiffanlegestellen auf der Westseite Manhattans einst stark belebte und hochfrequentierte Orte, bevor die Luftfahrt das zweckgebundene Reisen mit dem Schiff von Europa in die USA obsolet machte.

Die durchweg aus Holz erstellten, in den Hudson River ragenden Pierbauten wurden nutzlos, verfielen und wurden schließlich abgerissen. Zurück blieben ihre Gründungen – zahllose Holzpfähle, die in den Flussgrund getrieben waren. Dies geschah zunächst mehr aus Bequemlichkeit, doch mit dem einsetzenden Umweltbewusstsein erkannte man, dass die eng stehenden Pfahlfelder den Fischbeständen als Brutstätte dienten, weshalb diese indirekt unter Naturschutz gestellt wurden.

 

Die Idee

Eigentlich waren der Hudson River Park Trust und dessen private Sponsoren, das philanthropische Ehepaar Diane von Fürstenberg und Barry Diller, nur an das Heatherwick Studio herangetreten, um eine neue Anlegestelle mit einem aufgeständerten Pavillon am Standort des früheren Pier 54 zu entwickeln. Doch die Londoner Architekten sahen dies als Chance, mehr als nur ein dekoratives Objekt für den entlang des Flussufers verlaufenden Hudson River Park zu entwickeln. Vielmehr stellten sie Überlegungen an, wie der Pier an dieser Stelle noch anders gestaltet werden könnte. Dabei stand weniger eine mögliche Architektur als das Besuchererlebnis im Vordergrund. Erste vage Gedanken waren – so erinnert sich Thomas Heatherwick – ein „über dem Wasser sein“, ein „die Stadt hinter sich lassen“ und ein „in das Grüne eintauchen“.

Piergebäude sind für gewöhnlich horizontal organisierte Flachbauten, was ihrer Funktion als Anlegestellen für langgestreckte Schiffe entspricht. Dies hinterfragten die Londoner Planer und setzten dem die dynamische Topografie eines begehbaren Parks entgegen.

Sie erkannten die stadträumliche Qualität der aus dem Wasser ragenden Holzspitzen, die diesen Uferabschnitt prägen. Daraus entwickelten sie die Idee eines aufgeständerten Landschaftsgartens. Bewusst sollte sich das topografische Relief – gleich einem fliegenden Teppich – auch nach unten offenbaren, um so mehr Tageslicht an die geschützten Fischgründe zu führen.

Basierend auf diesen Gedanken konzipierte Heatherwick Studio einen 2,4 ha großen, annähernd quadratischen Landschaftsgarten. Entgegen den Erwartungen verlaufen dessen Außenkanten aber nicht parallel zum Ufer, sondern etwa um 30° davon abgewinkelt. Sein höchster Punkt, gut 18 m über der durchschnittlichen Wasserlinie des Flusses gelegen, findet sich in dem am weitesten vom Ufer entfernten Punkt, der westlichen Inselecke. Hier wurde eine Aussichtsplattform angeordnet, die zur Freiheitsstatue weist.

Grundsätzlich sollte das Naturerlebnis im Vordergrund stehen, gleichzeitig sollte das artifizielle Eiland aber auch als Veranstaltungsort nutzbar sein. Dafür schufen die Architekten ein Amphitheater mit 700 Plätzen und eine kleinere Bühne, „The Glade“ (die Lichtung) genannt, mit 200 Plätzen. Schließlich findet sich in der Inselmitte eine große, nach Westen hin ansteigende und teilweise mit Gras bewachsene Freifläche, auf der größere Konzerte mit bis zu 3.500 Personen möglich sind. Erschlossen wird die Insel über zwei Stege, die dem orthogonalen Inselgrundriss folgend einmal unmittelbar ans Ufer und einmal über einen 90°-Winkelzug dorthin führen. Unterhalb der Erhebungen, insbesondere unter den Rängen des sich zum Hudson River hin öffnenden Amphitheaters, befinden sich – diskret versteckt – administrative und technische Räume sowie die erforderlichen Toilettenanlagen.

Zusammen mit dem in Manhattan ansässigen Landschaftsplanungsbüro MNLA entwickelten die britischen Architekten das zugehörige Garten- und Landschaftskonzept. Dabei wurden 35 Baumarten, 65 verschiedene Sträucher und 290 Sorten Gräser, Reben und Stauden ausgewählt. Zusammen mit der Hügeltopografie schaffen sie ein geschütztes Mikroklima. Darüber hinaus wurde große Sorgfalt auf die Gewinnung des Regenwassers und dessen Rückhalt gelegt, weshalb die Planer ihre Insel gern als natürlichen Schwamm bezeichnen.

 

Betonfertigteile

Zusammen mit dem Statikbüro Arup entschieden sich die Architekten für eine tragende Konstruktion aus Betonfertigteilen. Für den Baustoff sprachen insbesondere seine hohe Salzbeständigkeit, die geringe Korrosionsneigung und die damit zu erwartende hohe Langlebigkeit. Zum Bau der künstlichen Insel wurden von dem Betonfertigteilhersteller Coastal Precast Systems in Chesapeake/Virginia 267 bis zu 60 m lange, vorgespannte Betonfertigteilpfeiler hergestellt. Sie wurden in den stark abfallenden Grund des Hudson River getrieben und können jeweils eine Last von 250-300 t tragen. Darauf montiert wurden insgesamt 132 tulpenartige Betonfertigteiltöpfe, die wiederum vom Fertigteilproduzenten Fort Miller in Schuylerville/New York stammen. Dazu wurden im Vorfeld die am Ende bis zu 90 t schweren Tulpentöpfe in ihre „Blätter“ zerlegt. Für deren Betonage waren über 3D-Modelle 39 wiederverwertbare Schalungssätze erstellt worden, die untereinander kombinierbar waren. Die Form der Tulpentöpfe ist inspiriert von einer mosaikartigen Eisstruktur, die sich im Winter infolge des Tidenhubs um die alten Holzpfähle herum bildet. Ihre Geometrie basiert auf dem sogenannten Kairo-Fünfeck, einer kreuzweisen Anordnung von vier regelmäßigen Fünfecken, die als Großform ein gestauchtes Sechseck ergeben. Jeweils ein Blatt besteht aus einem Fünfeck, vier davon bilden einen Tulpentopf.

Insgesamt 655 dieser Tulpenblätter wurden einzeln im Fertigteilwerk von Fort Miller betoniert und dann per LKW zum Hafen von Albany gebracht. In einer dort eigens angemieteten Lagerhalle wurden diese dann mit Edelstahlplatten zu den besagten Betontulpen zusammengeschweißt und die Verbindungsfugen mit Beton vergossen. Immer vier dieser Tulpentöpfe wurden schließlich mit einem Frachter den Hudson River hinab in das fast 250 km entfernte New York verschifft. Bewusst entschied man sich für diesen Weg, um keine Schwertransporte auf den ohnehin überlasteten Zufahrtsstraßen in die Metropole durchführen zu müssen.

Die hohlen Tulpentöpfe messen in ihrer längeren Achse 6 m und können eine Last von 90 t aufnehmen. So war es möglich, sie mit einer großen Menge Erdreich zu befüllen, damit auch größere Bäume darin ausreichend Wurzeln schlagen können. Das Montieren der Tulpentöpfe auf die Betonpfähle erfolgte mit zwei Schwimmkränen und erforderte ein präzises Arbeiten, da die Betonbauteile mit einem Kelchrandabstand von 30 cm zu platzieren waren und die zulässige Toleranz 7,5 cm betrug. Infolge ihrer fünfeckigen Geometrie erscheinen die präzise angeordneten Tulpentöpfe jedoch wie locker aneinandergereiht – ein Eindruck, der bewusst angestrebt wurde.

 

Bürgernahe Nutzung

Die planerischen Anfänge zum „Little Island“ liegen fast zehn Jahre zurück, die Bauarbeiten dazu begannen im Jahr 2018. Damals wurden die ersten 164 Pfähle in den Untergrund gesetzt, die restlichen 103 Pfähle konnten erst zwischen Mai und Juli 2019 eingerammt werden, da Umweltauflagen solche Tätigkeiten aufgrund der saisonalen Fischwanderung im Winter und im Frühjahr untersagen. Nachdem der letzte Topf Anfang 2020 gesetzt war, begannen die landschaftlichen Ausbauarbeiten, bei denen insbesondere ein umfangreiches Bewässerungssystem installiert wurde, das sicherstellte, dass die ganz frisch gepflanzten Bäume und Pflanzen nicht eingingen, bevor der Park überhaupt fertiggestellt war.

Im Mai 2021 wurde schließlich der maritime Landschaftspark eröffnet. Der Zutritt ist an veranstaltungsfreien Tagen kostenlos, erfordert jedoch infolge der Pandemie eine Terminbuchung. Kleinkünstler, die an solchen Tagen ihre Künste dort präsentieren wollen, müssen sich allerdings bei der Inseladministration dafür bewerben. Bei Großveranstaltungen verwandeln sich die beiden Zugangsstege, die sogenannten „Gangplanks“, im Handumdrehen zu Einlässen, an denen Eingangskontrollen einfach durchzuführen sind.

Mit dem „Little Island“ ist New York zweifellos um eine weitere Attraktion reicher, die zu jeder Jahreszeit sehenswert ist: Denn auch zum Inszenieren der Jahreszeiten haben sich die Landschaftsplaner von MNLA umfassende Gedanken gemacht.

Vita:

Robert Mehl (1969)
1989 bis 1998 Architekturstudium an der RWTH Aachen. 1998 bis 2001 Mitarbeiter in größeren Architekturbüros in Münster, Berlin und Aachen. 2004 erfolgte die Aufnahme als Architekt in die Architektenkammer NW. Seit 2004 ist Robert Mehl zudem als freier Architekturfotograf, Journalist und Redakteur u. a. für den Bauverlag tätig. Für diesen betreut er das Jahrbuch BetonBauteile seit dessen Ausgabe 2006.

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